Pauschalreise ins Glück
Pauschalreise ins Glück
Von Reiseunternehmen und Schlepper_innen
„Um ins Land der Wünsche zu kommen, können Migranten und Touristen auf die professionellen Dienste ganzer Industrien des Transportes und der Navigation zurückgreifen. Seit Thomas Cook gehören Reiseagenturen zur Infrastruktur des Tourismus. Aber auch in der Geschichte der Arbeitsmigration und der Flucht sind Spezialisten – diffamierend auch Schlepper genannt – kein neues Phänomen.“ (aus „Fliehkraft“)
„Glück ist käuflich“ (TUI)
Das große Geschäft mit dem Fernweh trat seinen Siegeszug Mitte des 19. Jahrhunderts an. Zu den Erfolgreichsten gehörte der Baptistenprediger Thomas Cook aus Leicester. Seine erste Pauschalreise organisierte er für knapp 600 Menschen in das 12 Meilen entfernte Loughborough. Im Preis von einem Schilling waren nicht nur die Hin- und Rückfahrt enthalten, sondern auch Musik, Tee und Gebäck. Das Geschäft florierte schnell und bald konnte er nicht nur seinen Firmensitz nach London verlegen, sondern nahm auch Ziele auf dem Kontinent in sein Programm auf. Rundreisen nach Antwerpen, Waterloo, Heidelberg, Straßburg und Paris. Ab 1865 erschlossen Cook & Son auch außereuropäische Gebiete für den Tourismus: zuerst die britischen Kolonien Ägypten, Palästina und Indien.
Thomas Cook und sein Unternehmen entwickelten die Grundprinzipien des modernen Tourismus und wandten sie in großem Stil an. Die Kund_innen erwarben in Form eines Couponbuches ein komplettes Leistungspaket: Fahrt, Verpflegung und Übernachtung, gegebenenfalls auch Reiseleitung und Extras wie Honorare für Dolmetscher_innen und Eintrittsgelder.
1863 wurde in Deutschland fast zur gleichen Zeit das von Carl Stange geführte „Reise-Buerau“ gegründet. Die erste Gesellschaftsreise nach Palästina organisierte er bereits ein Jahr nach Firmengründung. 1878 leitete er die erste Weltreise. In Deutschland stieg Stange schnell zum führenden Reiseveranstalter auf.
Vom Migranten- zum Kreuzfahrtdampfer
Der weitaus größere Teil jener Menschen aus Europa, die sich auf große Fahrt begaben, ließen ihre Heimat jedoch für immer hinter sich. Ab Mitte des 19. Jahrhunderts wanderten pro Jahr weit über 100.000 Deutsche aus, die meisten nach Amerika. Sie hatten ihr weniges Geld zusammengekratzt und wollten in der Neuen Welt ihr Glück versuchen. Zum Teil gingen sie, weil die industrielle Revolution ihre traditionellen Berufe verdrängte, zum anderen war es auch die Flucht vor Unterdrückung und Verfolgung.
Diese Migrationsströme bildeten die Basis für den wirtschaftlichen Erfolg der deutschen Reedereien. Am 27. Mai 1847 versammelten sich 30 Reeder und Kaufleute im Konferenzzimmer der Hamburger Börse und gründeten dort die Hamburg-Amerikanische Packetfahrt-Actien-Gesellschaft, kurz HAPAG genannt. Ziel war es, am schnell expandierenden Auswandererverkehr nach Amerika zu partizipieren. „Die hanseatischen Herren gründeten die HAPAG natürlich nicht in erster Linie aus sozialem Engagement, sie wollten vielmehr an den Möglichkeiten teilhaben, die eine solche Auswanderungswelle der Schifffahrt eröffnete.“ (Günther Casjens, Vorstand der Hapag-Lloyd AG, 2001) Rund sechs Millionen deutsche Auswanderer_innen nutzten in den folgenden Jahren die Dampfer der HAPAG und anderer Reedereien für die Überfahrt nach Amerika.
„Menschen bewegen. Märkte verbinden“ (TUI)
Doch im Winter lagen die Schiffe der HAPAG in den Docks ungenutzt. So entstand die Idee der touristischen Schiffsfahrt. Jene Passagierdampfer, die in den Sommermonaten Auswanderer_innen den Weg in das Land der Freiheit ermöglichten, boten nun den Eliten Europas luxuriöse Kreuzfahrten. 1891 wurde die erste Pauschalreise auf einem Dampfer angeboten: Eine Nil-Kreuzfahrt. Der Erfolg stellte sich schnell ein. Schritt für Schritt bauten die Reedereien ihre Dampfer in Kreuzfahrtschiffe um: Schwimmende Luxushotels, die ihre Passagiere wieder an den Ausgangshafen zurückbrachten. Im Unterdeck wurden oft weiterhin die Arbeitsmigrant_innen transportiert. Als die Auswanderertransporte mit der Einführung der US-amerikanischen Einwanderungsquote zurückgingen, stiegen die kapitalträchtigen Reedereien ernsthaft in das Tourismusgeschäft ein. 1905 kaufte die HAPAG das Reiseunternehmen Stange auf. Und noch im selben Jahr gründete die größte Konkurrenz-Reederei, die Norddeutsche Lloyd, zusammen mit Cook in Berlin das Weltreisebüro Union.
Der Grundstein der deutschen Tourismusindustrie wurde mit dem Transport von Auswanderer_innen nach Übersee gelegt: Mit Menschen, die aus politischen oder religiösen Gründen ihre Heimat verlassen mussten, oder getrieben waren, vom Wunsch nach einem besseren Leben. Heute sind die Tourismuskonzerne zu mächtigen Playern auf den internationalen Märkten aufgestiegen. Konzerne wie TUI beeinflussen Staaten und diktieren Handelsbeziehungen. Ihre Werbung prägt unser Bild von anderen Ländern und Lebensgewohnheiten. Bilder von angeschwemmten Flüchtlingen auf den Kanaren oder soziales Elend in unmitttelbarer Nähe zum Touristenressort in Marokko werden wir in den farbigen Reisekatalogen nicht finden.
Das Unterdeck des Traumschiffs
Wer Menschen in Bewegung setzt und ein Geschäft mit dem Fernweh betreibt, musste damals wie heute nationales Denken überwinden und in globalen Kategorien handeln. Doch die Unterscheidung zwischen den guten und den schlechten Akteur_innen ist allgegenwärtig. So wird die Taxifahrt, die geführte Wanderung oder der Bustransfer abhängig von der Kundschaft als „touristisches Angebot“ gelobt oder als „verabscheuungswürdiges Geschäft“ diffamiert. Auch wenn die Bedingungen, unter denen die Touren für Tourist_innen und Migrant_innen organisiert werden zahlreiche Unterschiede aufweisen, so handelt es sich bei nüchterner Betrachtung doch um die gleichen Dienstleistungen. Allein das Reisemotiv und die Herkunft des Reisenden entscheiden über die Legalität und gesellschaftliche Akzeptanz der Dienstleistung.
Die Auswanderung des/der Einzelnen ist häufig das Projekt einer ganzen Familie oder sogar einer Dorfgemeinschaft. Die Netzwerke bleiben über die Grenzen erhalten und verknüpfen sich mit den Communities in den Einwanderungsländern. Aus diesen Netzwerken heraus erfolgt wiederum die Finanzierung des nächsten Migrationsprojekts und die entsprechende Expertise ist nun bereits vorhanden. Wer es geschafft hat, besitzt meist ein gültiges Visum für die Einreise – ein Geschäfts- oder Messevisum, aber in den meisten Fällen ein Touristenvisum. Für den langen Weg nach Europa sind sie ebenfalls wie die Tourist_Innen auf Experten angewiesen, die bei der Routenplanung, den Visa-Anträgen und den ersten Unterkünften in der neuen Heimat behilflich sind.
Aber die Abschottung Europas und sich verschärfende Visa-Restriktionen machen die Anreise, den Grenzübertritt und die Beschaffung der notwendigen Zwischenquartiere für viele Migrant_innen zu einem schwierigen und auch gefährlichen Unterfangen. Häufig können selbst Migrant_innen aus den Mittelschichten der sogenannten Entwicklungsländer die enormen finanziellen Voraussetzungen für ein Visum nicht erfüllen oder die Visumsanträge werden aus unerklärlichen Gründen abgelehnt, wie zum Beispiel während der Fußball-WM in Deutschland.
Migrant_innen, denen der Zugang nach Europa verwehrt wird, müssen auf Dienstleister_innen zurückgreifen. Diese „Reiseexpert_innen“ werden zu Unrecht kriminalisiert. Die Palette der möglichen Dienstleistungen ist breit: Sie beschaffen die notwendigen Informationen, wählen Routen aus, organisieren Verkehrmittel, stellen imaginäre Besuchsprogramme mit Hotelreservierung aber auch Vermögensnachweise und Einreisepapiere zur Verfügung. Und wie bei jeder Pauschalreise hängt auch der Preis einer Fluchthilfe in der Regel von Distanz, Zielland und angebotenem „Service“ ab. So wird der kleine Grenzverkehr zum Beispiel häufig von Bewohner_innen in Grenzregionen genutzt, um sich etwas dazu zu verdienen, etwa beim Transport mit privaten Kleinbooten oder LKWs. Dabei wird berichtet, dass Taxifahrer_innen unter anderem in Görlitz als ‚Schlepper’ denunziert wurden, weil sie Migrant_innen zu ortsüblichen Taxipreisen befördert haben.
Routen, die aus anderen Kontinenten in Top-Regionen wie Nordamerika oder Westeuropa führen, sind verständlicherweise am teuersten. Permanentes Aufstocken von Grenzbeamt_innen, modernste Technologie und fälschungssichere Pässe oder Visa zwingen die „Reiseexpert_innen“, ihre technische und logistische Infrastruktur im gleichen Ausmaß zu verbessern. Die zusätzlichen Mehrkosten fallen im Allgemeinen auf die MigrantInnen zurück.
So vielfältig wie die einzelnen Dienstleistungen, so vielfältig sind auch die Anbieter. Dabei gibt es schmutzige Geschäfte und faire Geschäfte, es gibt Geschäfte mit Risiken und Geschäfte mit Garantien. Je stärker die Kontrollen an den Grenzen, umso mehr Risiken müssen die Migrant_innen in Kauf nehmen. Und es darf natürlich auch nicht unerwähnt bleiben, dass es Fluchthelfer_innen gibt, die das Leben ihrer Klient_innen riskieren, nur um die Gewinnspanne zu erhöhen. Häufig kann man zwischen Fluchthelfer_innen und Flüchtlingen nicht einmal klar unterscheiden. So verschaffen sich Flüchtlinge, wenn sie in einem Transitland stranden, nach und nach eine gewisse Expertise über die Landes- und Grenzverhältnisse. Als Fluchthelfer_innen verdienen sie sich ein kleines Einkommen, bis sie dann selber weiterreisen können. Fluchthilfe ist in diesem Fall ein Teil der Migrationsbewegung.
Erschienen in
Grenzgänger - Migration & Tourismus (2008)