NoBody is perfect

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Körper & Normierung NoBody is perfect

Eine Geschichte von Sport, Gesundheit und normierten Körpern

Die Deutschen sind zu fett, rauchen zu viel, ernähren sich falsch und vor allem bewegen sie sich zu wenig. Da scheinen sich alle einig. Diese Auffassung zieht sich durch fast alle Medien von der Men’s Health über die Brigitte bis zur BILD. Insbesondere Politik, Gesundheitswesen und Sportverbände bedienen diesen Diskurs mit immer neuen Kampagnen und Gesetzesvorschlägen: „Deutschland bewegt sich“ (Barmer, BILD und ZDF), „Deutschland wird fit. Gehen sie mit.“ (Bundesgesundheitsministerium in Kooperation mit Deutscher Wanderverband), „Sport tut Deutschland gut“ (Deutscher Olympischer Sportbund), „Qualitätssiegel Sport pro Gesundheit“ und „Pluspunkt Gesundheit“ (Deutscher Turnerbund) sind nur einige Beispiele. Und auch bei den Parteien herrscht Einigkeit. Das 2007 beschlossene Eckwertepapier der Bundesregierung fasst den aktuellen Stand der Debatte ganz gut zusammen: „In Deutschland – wie in allen Industrienationen – nehmen Krankheiten zu, die durch frühzeitige Prävention vermieden werden könnten. Sie beeinträchtigen die Lebensqualität, können die Lebenserwartung verkürzen und bewirken hohe Kosten für die Gesundheits- und Sozialsysteme (...) Gesundheit kann ein entscheidender Faktor für die Innovations- und Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen und damit für den Standort Deutschland sein.“ Und der Deutsche Sportbund (seit 2006 Deutscher Olympischer Sportbund) beschloss 2002 zu den Aufgaben des deutschen Sports: „Er trägt unter anderem dazu bei, dass (...) die Kosten vermeidbarer Krankheiten durch aktive Lebensgestaltung gesenkt werden, (...) und der Mut zur Leistung mit ihrem Gewinn für Individuum und Gesellschaft nicht verloren geht.“

Mitte 2010 ging der Geschäftsführer der Verbraucherorganisation Food Watch, Thilo Bode , sogar noch einen Schritt weiter: „Die Dicken und die Ernährungsindustrie schaden uns. So entstehen angeblich durch falsche Ernährung allein in Deutschland jährliche Kosten von mehr als 70 Milliarden Euro – das sind 30 Prozent aller Gesundheitskosten.“

Doch auch wenn man angesichts der aktuellen Debatten das Gefühl haben könnte, es handelt sich um ein neues Phänomen, so wird man beim Blick in die Geschichte doch vom Gegenteil überzeugt.

Das Bewegungsspiel scheint seit Beginn der biopolitischen Diskurse der Moderne seine Unschuld als vergnügliche Freizeitbeschäftigung verloren zu haben. Der moderne Sport ist Teil einer umfassenden Bevölkerungspolitik, sein Ziel ist der normierte, verwertbare Körper. Aber ein Schritt nach dem anderen.

Die Entdeckung des Körpers: Bio-Macht und Bio-Politik

Mit der Aufklärung wurde der menschliche Körper zum Untersuchungs- und Erkenntnisobjekt erhoben. Die moderne Medizin widmete sich seither neben der Behandlung von Verletzungen und der Bekämpfung von Krankheiten auch Themen wie der Hygiene und anderen geeigneten Maßnahmen zur Förderung der Gesundheit. Dabei waren die Grenzen dessen, was als Krankheit galt und die Frage, welche Rolle beispielsweise Homosexualität oder Behinderungen für eine gesunde Bevölkerung spielten, von politischen Machtverhältnissen abhängig. Bekanntermaßen führte dies, stets wissenschaftlich abgesegnet, zu Maßnahmen von Umerziehung bis zur systematischen Ermordung vermeintlich ungesunder Menschen. Die politische Beeinflussung der Körper der Bevölkerung war dabei nicht nur auf die Kontrolle unerwünschter Elemente gerichtet, sondern hatte auch die Bereitstellung ausreichend gesunder und leistungsfähiger Arbeitskräfte und potentieller Soldaten zum Ziel.
Der französische Soziologe Michel Foucault bezeichnet dieses Gefüge aus gesellschaftlichen und staatlichen Institutionen, ihren Handlungsweisen sowie den geltenden Normen und politischen Diskursen um den Körper mit den Begriffen Biomacht und Biopolitik. Der Clou dabei ist, dass Foucault zeigen kann, wie die strukturellen Bedingungen und daraus resultierenden Programme, etwa zur Fortpflanzung, für mehr Geburten oder für eine längere Lebensdauer, sowie das Gesundheitsniveau insgesamt eng mit den individuellen Wünschen und Vorstellungen verknüpft sind, wie ein gesunder Körper gestaltet sein soll.

Eugenik

Die Basis für derartige sozialtechnologische Eingriffe in die Gesellschaftsentwicklung, mit denen die Quantität und vor allem die Qualität der Bevölkerung verbessert werden sollten, stellten biologistische Gesellschaftsentwürfe dar. Für biologistische Theorien ist Gesellschaft ein Organismus, der dem menschlichen Körper ähnelt. Häufig werden damit soziale Unterschiede als vermeintlich allgemeingültiges Naturgesetz unveränderlich festgeschrieben. Diese Theorien verbanden sich Ende des 19. Jahrhunderts mit der Eugenik („Erbgesundheitspflege“), die ihrerseits auf der Selektions- und Evolutionstheorie Darwins und der um die Jahrhundertwende wieder entdeckten und auf den Menschen übertragenen Vererbungslehren Gregor Mendels basierte. Hatten die frühen Sozialdarwinisten noch an eine natürliche Höherentwicklung der Gesellschaft durch die „Auslese der Besten und Stärksten“ im „Kampf ums Dasein“ geglaubt, so war diese Hoffnung gegen Ende des 19. Jahrhunderts tief erschüttert worden. Die sozialen Probleme und Spannungen, die katastrophalen Lebensbedingungen in den Arbeiterbezirken der Großstädte, so genannte „Krankheiten“ wie Tuberkulose, Alkoholismus, Kriminalität als Folgen der Industrialisierung und Urbanisierung wurden auf dem Boden des Ideologiegemisches von Sozialdarwinismus und Vererbungslehre als untrügliche Zeichen eines umfassenden gesellschaftlichen Niedergangs, einer großen „Degeneration“, interpretiert. Es entstand in vielen Gesellschaften Europas, aber auch in den USA, die Wahnvorstellung einer fortschreitenden Akkumulation vererbbarer Defekte. Zugleich stellte der Biologismus aber auch den Boden für „heilende“ Eingriffe in die gesellschaftliche Entwicklung bereit. Da sich die sozial-kulturelle Krise als eine biologisch-medizinische darstellte, schien sie auch durch die Mittel der Biologie und Medizin „geheilt“ werden zu können.

Hintergrund für die staatlichen Bio-Politiken der Bevölkerung war dabei insbesondere die Konkurrenz der europäischen Nationalstaaten um Marktanteile, Kolonien und Einflusssphären auf dem sich etablierenden Weltmarkt. Die Nationalstaaten nahmen ihre Bevölkerungen als Herrschafts- und Kriegsressourcen ins Visier, die es größer, kräftiger und gesünder zu machen galt. Zu diesem Zweck wurden einerseits Maßnahmen einer „negativen“ Eugenik zur Aussonderung qualitativ unerwünschter Personen („Kranke“, „Perverse“ und „Degenerierte“ wie Alkoholiker, Kriminelle, Syphilitiker, Wahnsinnige etc.) aus dem Fortpflanzungsprozess ins Auge gefasst. Andererseits entstanden medizinische Anstalten zur Senkung der Krankheitsrate, zur Geburtenförderung, der Verlängerung der Lebensdauer und zur Kräftigung der individuellen Energien, die in das Konzept eines organisch gedachten „Volkskörpers“ integriert wurden. Sie bildeten die andere Seite der Bevölkerungspolitik.

Staatliche Gesundheitsprogramme und Gegenkultur

Die Idee der Perfektionierung des Menschen und der Gesellschaft schlug sich zum einen in staatlichen Erziehungs- und (Volks-)Gesundheitsprogrammen nieder, mit denen die Geburten- und Sterblichkeitsraten durch eine Kontrolle der Sexualität und der eugenischen Praktiken „von oben“ gesteuert werden sollten. Zum anderen artikulierten sie sich in den gegen die Gefährdung der Gesundheit durch miserable Lebensbedingungen „von unten“ aufbegehrenden, vielstimmigen Gewerkschafts- und Erneuerungsbewegungen. So vertrat auch der sozialdemokratische Theoretiker Karl Kautsky 1910 die Vorstellung, der Staat müsse bei der „natürlichen Zuchtwahl“ tätig werden. Die Lebensreformbewegung entwickelte sich seit der Jahrhundertwende zwar unabhängig vom Staat. Sie teilte aber dessen Besessenheit von Fragen der Sexualität, der Gesundheit und der Hygiene. In diesem Milieu der Abstinenzler/innen, Vegetarier/innen, Nudist/innen und Naturheilkundler/innen bewegten sich auch die Naturfreund/innen bis zum Ende der Weimarer Republik. Aufgrund der Dominanz biologistischer Vorstellungen konnte sich der sozialkritische Gehalt, den „Gesundheit“ auch haben kann, nicht entfalten.

Die Entstehung des modernen Sports

Der im 19. Jahrhundert entstandene moderne Sport lässt sich durchaus in den skizzierten biopolitischen Kontext einordnen. Bis zu dieser Zeit war es undenkbar, dass ein Mensch sich ohne persönliche Not körperlicher Anstrengung aussetzte. Wer zu Fuß lange Strecken ging, konnte sich keinen Karren leisten. Nach medizinischer Lesart verlor der Mensch durch das Schwitzen sogar wichtige Körperflüssigkeiten und die vornehme Blässe oder die Leibesfülle waren Ausdruck eines höheren sozialen Standes.
Die Durchsetzung und Verbreitung des Sports war nur auf Grundlage einer neuen „gesunden“ Kultur mit dem Ideal des „gesundeten“ Menschen denkbar. Zum anderen wurde die sportliche Erziehung in den europäischen Industrienationen schnell von staatlicher Seite als sozialtechnologisches Instrument zur Verbesserung der „Volksgesundheit“, der „Hygiene“ und der „Kraft der Nation“ ins Visier genommen. Staatliche Gesundheits-, Hygienisierungs- und Moralisierungskampagnen auf der einen und die Bestrebungen der Lebensreformbewegungen auf der anderen Seite spielten zusammen.

Die deutsche Turnbewegung

1811 eröffnete „Turnvater“ Friedrich Ludwig Jahn in der Hasenheide seinen ersten Turnplatz. 1816 veröffentlichte er mit Ernst Eiselen das Werk „Die deutsche Turnkunst“ – ein Pamphlet gegen Napoleon und für die deutsche Nation. Darüber hinaus beschreiben die Autoren ein pädagogisches und paramilitärisches Programm, das weit über die Körpererziehung im engeren Sinne hinausgeht: „Kriegsübungen, wenn auch ohne Gewehr, bilden männlichen Anstand, erwecken und beleben den Ordnungssinn, gewöhnen zur Folgsamkeit und zum Aufmerken, lehren den Einzelnen sich als Glied in ein großes Ganzes zu fügen. Eine wohl geübte Kriegerschar ist ein Schauspiel von der höchsten Einheit der Kraft und des Willens.“ Entsprechend wurden auch viele Übungen in der Hasenheide auf Befehl ausgeführt. „Fuß an Fuß! Leib gerade! Bauch rein!“ etc. Und an einer anderen Stelle in der „Deutschen Turnkunst“ heißt es: „Man darf nie verhehlen, dass des Deutschen Knaben heilige Pflicht ist, ein Deutscher Mann zu werden und geworden zu bleiben, um für Volk und Vaterland kräftig zu würken, unsern Urahnen den Weltrettern ähnlich.“

Olympische Spiele

Pierre de Coubertin, der Begründer der modernen Olympischen Spiele, entwickelte seine Reformpädagogik im Zusammenhang sozialhygienischer Bestrebungen u.a. mit dem Ziel, Dekadenz und „Degeneration“ der Industriegesellschaften entgegenzuwirken. Ausdrücklich stellte er den modernen Sport in eine Reihe mit Moralerziehung, Medizin und Eugenik – ein Programm, das sich unausgesprochen gegen alles Untüchtige, Kranke und Schwache richtete. So zählte er zu den „Pathologien“, mit denen sich Frankreich um die Jahrhundertwende konfrontiert gesehen habe, den „Alkoholismus“, die „Tuberkulose“, eine zu Passivität verurteilende „gekünstelte Mentalität“ und „krankhafte Grübelei“ sowie Resignation und Verweichlichung von Körper und „Charakter“. Der Gründer der modernen Olympischen Spiele favorisierte als Heilmittel ausdrücklich den auf Konkurrenz und Individualisierung angelegten Wettkampfsport. Sportliche Wettkämpfe seien besonders geeignet, die männlichen Individuen auf die Kämpfe des modernen Lebens vorzubereiten, die individuellen Energien freizusetzen und der ermatteten Zivilisation eine neue „männliche Energie“ einzuhauchen.

Frauen und Körperertüchtigung

Bereits 1762 forderte Rousseau die körperliche Ertüchtigung der Frauen, damit sie kräftigen männlichen Nachwuchs zur Welt bringen. Insbesondere die frühen Theoretiker des Sports wie Johann Christoph Friedrich GutsMuths sprachen sich jedoch weiterhin dagegen aus. Noch 1793 konnte man in seinem als „bahnbrechend“ gefeierten Werk „Gymnastik für die Jugend“ die negativen Auswirkungen der Gymnastik auf den weiblichen Körper nachlesen.

Erst Mitte des 19. Jahrhunderts wurde gezielt damit begonnen die weibliche Gesundheit ins Visier zu nehmen. Wobei sich die ersten Maßnahmen ausschließlich auf die großbürgerliche Frau richteten. Frauen wurden als die zentralen Träger der Volksgesundheit identifiziert und in ihrer Rolle als Mütter für einen gesunden Nachwuchs verantwortlich gemacht. Um dieser Aufgabe gerecht zu werden, mussten sie jedoch zuerst körperlich ertüchtigt werden. Bürgerliche Frauen waren zu jener Zeit praktisch ohne Betätigung, da die Kindererziehung und Hausarbeit von Dienstpersonal erledigt wurde. Die „höheren Töchter“ waren zur Untätigkeit gezwungen, ihre Aufgabe war es, auf ihren standesgemäßen Ehemann zu warten. Da fast alle Tätigkeiten dieser Frauen im Sitzen erledigt wurden, attestierten ihnen Mediziner dieser Jahre Bewegungsmangel und einen schlechten gesundheitlichen Allgemeinzustand. Der (aufgrund anderer Ursachen) weitaus schlechtere Gesundheitszustand der proletarischen Frauen wurde hingegen nicht thematisiert. Der gesundheitliche Aspekt war maßgeblich für die Entwicklung von weiblichen Leibesübungen. Es ging den Ärzten allerdings nicht um die Gesundheit der Frauen als Selbstzweck, denn „körperliches und geistiges Wohl ganzer Generationen hängt von ihrer (der Frauen, Anm. d. Redaktion) größeren oder geringeren Qualität ab, und die Störungen sind leicht zu begreifen, die dann eintreten, wenn die Familienmutter jenes körperliche Gut (der Gesundheit, Anm. d. Redaktion) entbehrt“ (aus „Die weibliche Turnkunst“, 1855). Als erste europäische Stadt erlaubte Perst (Ungarn) ab 1833 Frauen, täglich von 12 bis 15 Uhr die öffentliche Schwimmanstalt zu besuchen. 1886 fand das erste Radrennen für Frauen in Bordeaux statt. 1894 wurde an Preußens höheren Mädchenschulen der obligatorische Turnunterricht eingeführt.

Dennoch wurden die Frauen noch eine lange Zeit dem organisierten Sport ferngehalten. Erst 20 Jahre nach der Gründung der Deutschen Turnerschaft wurde 1887 in Leipzig eine Frauenabteilung eingerichtet. Die Frauenabteilungen waren den Männervereinen angegliedert. Frauen hatten bis 1918 nicht den Status von Vereinsmitgliedern mit dazugehörigen Rechten, sondern waren lediglich Vereinsangehörige, die ihre Beiträge zahlten. Und noch 1903 verbot die Führung der Deutschen Turnerschaften angegliederten Frauenabteilungen die Teilnahme am Deutschen Turnfest in Nürnberg. Man war der Meinung, ein öffentliches Auftreten der Frauen entspräche nicht den gesellschaftlichen Normen.

1895 gründete der größte Arbeitersportverein „Fichte“ in Berlin seine erste Damenabteilung, die bereits zwei Jahre später öffentliche Veranstaltungen durchführte. Das Frauenturnen wurde von den Arbeitersportlern als Aufstand gegen das proletarische Elend der Arbeiterfrauen begriffen. Hierzu stand in der Arbeiter-Turnzeitung 1896: „Die einseitige Beschäftigung können wir zwar nicht vermeiden, wir können aber ihre Folgen abschwächen durch harmonische Ausbildung aller Muskeln, durch ein geregeltes vorschriftsmäßiges Turnen.“ Und etwas kämpferischer in der gleichen Zeitung aber 1921: „Die Befreiung der Arbeiterklasse aus den kapitalistischen Fesseln können Männer allein niemals erreichen. Die Frauen müssen als vollwertige Kämpfer dabei helfen.“ In einem guten Gesundheitszustand sah man die erste Bedingung für ein politisches Engagement.

Arbeitersport

Nach dem Fall des „Sozialistengesetzes“ bildete sich in Deutschland eine eigenständige Arbeitersportbewegung. Sie war in das vielfältige Organisationsgeflecht der Arbeiterkulturbewegung eingebunden und distanzierte sich eindeutig vom Nationalismus und Militarismus ihrer bürgerlichen Konkurrenzorganisationen. Die Arbeitersportler/innen wollten sich in einer solidarischen und nicht durch Konkurrenz vergifteten Atmosphäre sportlich betätigen. Sie forderten den Massensport und wendeten sich gegen die „Professionalisierung“ und „Rekordsucht“ im Sport.

Doch das Ideal des „neuen Menschen“ und die Kernthese, dass „nur in einem gesunden Körper auch ein gesunder Geist steckt“, wurden auch im proletarischen Sport weiter gepflegt. So konnte man 1904 in der Arbeiter-Turnzeitung lesen: „Einen Kampf kann man nur mit gesunden, kräftigen Menschen führen. Der Baustein der Zukunft darf nicht krank und faul sein. Auf die Verelendung der Massen kann man keine Zukunftsbäume pflanzen.“ Man wollte keine „schwächlichen Müßiggänger“ und „dekadenten“ Wesen heranziehen, sondern starke, saubere und kraftvoll strotzende Arbeiter. Die sportpolitischen Papiere der frühen Arbeitersportbewegung sollten allerdings auch vor dem Hintergrund der katastrophalen Lebens- und Arbeitsbedingungen der Unterschicht gelesen werden. Die Thematisierung von Gesundheit hatte insbesondere während der Industrialisierung immer auch eine emanzipatorische Komponente, weil sie ein zentrales Argument für die Verbesserung der Lebensumstände und Arbeitsbedingungen lieferte. Wohnungsbauprogramme, Arbeitsschutz, 5-Tage-Woche oder ein kommunales Gesundheitswesen waren Ergebnisse sozialer Kämpfe.

Lebensreformbewegung

Seit Ende des 19. Jahrhunderts und inspiriert durch die Lebensreformbewegung wurde der äußere Drill eines Turnvater Jahns zunehmend durch Eigenverantwortung ersetzt. „Wir müssen in den Leibesübungen den ‚Drill‘ überwinden und alle Anstrengungen machen, die Selbstdisziplin zu wecken“, verkündete Hans Surén, einer der Protagonisten der lebensreformerischen Freikörperkultur in Deutschland. Das Turnen sei nichts anderes als eine „ins Körperliche umgesetzte Grammatikstunde“. Statisch und auf Äußerlichkeit angelegt zeichne sich der turnerische ‚Drill‘ durch einen nur allzu „vergänglichen und oberflächlichen Erfolg“ aus. Es werde ein ‚vorgeschriebenes Schema‘ nachgeahmt. Der ‚Dressur‘ als „Oberflächenarbeit“ stand die gymnastische Übungsweise gegenüber, bei welcher der „‚Wille zur Übung‘ [...] in uns und nicht im Befehl eines Übungsleiters“ liege, wie Surén betonte. Die geforderte Selbstdisziplin stellte eine neue, ‚demokratisierte‘ Form der Selbstregierung dar, die jedoch nicht weniger machtförmig strukturiert war.

Weimarer Republik

In Deutschland wirkte sich insbesondere der Erste Weltkrieg auf die Intensität der Sorge um den Körper aus. Leistungs- und Massensport, FKK, Bodybuilding, Schönheitskonkurrenz und Diäten-Kult boten sich dazu an, der „Kriegsdemütigung“ durch die Wiederherstellung und massenmediale Dauerverherrlichung schöner, starker und gesunder Körper ein neues nationales Selbstbewusstsein entgegenzusetzen. Zeitgleich erfolgte die gesellschaftliche Marginalisierung von Kriegsinvaliden. Einzige Ausnahme bildeten die linken Verbände der Friedensbewegung und der Kriegsinvaliden. Mit der Darstellung von verkrüppelten Körpern agitierten sie gegen Krieg und Aufrüstung sowie die Entschädigung der Opfer des Ersten Weltkrieges.
Die mannigfaltigen Körperkonzepte der Weimarer Republik – vom effizient funktionierenden Athleten bis zur Ästhetik des Tanzens – erlangten eine Einheit allein über gemeinsame Gegenbilder des Beschädigten, Pathologischen, Hässlichen oder Fremden. Beharrlich wurden solche Gegenbilder – etwa in Karikaturen und Bildern gebückter und ungepflegt wirkender, jüdischer und proletarischer Körper – mit ausgegrenzten Gruppen verbunden. Das gesellschaftlich akzeptierte Idealbild orientierte sich demgegenüber am Sport: Muskulöse Männerkörper sowie trainierte Frauen mit Bubikopf und rasierten Beinen.

Nationalsozialismus

Auch der Nationalsozialismus konnte auf diesen Zug aufspringen. Seine Symbolik orientierte sich an den gleichen Gegensätzen von schön/hässlich, gesund/krank, stark/schwach und rein/unrein. Sport wurde im Nationalsozialismus von staatlicher Seite nicht nur als vormilitärische Erziehungsform eingespannt, sondern auch als Maßnahme der „Rassenhygiene“, als Feld der Produktion eines neuen, starken Menschen gesehen.

Der Anspruch, totale Macht über den Körper zu entfalten, manifestierte sich im NS auch in der Unterordnung von Sport und Leibesübungen unter den Staat. Hatte der bürgerliche Diskurs über den Sport auf das Prinzip der persönlichen Verantwortung für die eigene Existenz gebaut, so übernahm nun der Staat die Verantwortung für die Einzelexistenz. „Die Reinheit des Volksleibes zu erhalten, seine Gesundheit und seine Kraft zu steigern“, wurde von dem führenden NS-Sporttheoretiker Bäumler als „erste Aufgabe völkischer Politik“ ausgegeben. Ziel war die „Erziehung des ganzen Menschen vom Leibe her“.

Nicht nur auf der Ebene ideologischer Programmatik, sondern auch in der (Erziehungs-)Wirklichkeit gehörten Kampf und Wettbewerb im NS zu bevorzugten Sozialisationsformen. Zu denken ist dabei z.B. an die Reichsjugendwettkämpfe, die Reichssportwettkämpfe der Hitlerjugend, die Reichswettkämpfe der SA, den Reichsberufswettkampf, den Reichsleistungskampf der deutschen Studentenschaft, den Reichswettbewerb Olympia, aber auch die „Führer-“ und „Führerinnenauslese“ auf den untergeordneten Ebenen von Schulen und HJ-Lagern.

Der deutsche Faschismus konnte auf vielfältige Traditionslinien sowie auf bereits existierende Gesetzesvorlagen (beispielsweise zur „Verhütung erbkranken Nachwuchses“) aufbauen, sie bündeln und in seine staatliche Politik einbauen, die sich auf die beiden Pfeiler „Auslese“ und „Ausmerze“ stützte. Unter den Bedingungen des Nationalsozialismus wurde die Sorge um den Körper explizit rassistisch gewendet und dem Gedanken der „Volksgesundheit“ und „Rassenhygiene“ dienstbar gemacht.

Bundesrepublik

Im modernen Kapitalismus hat sich das Verhältnis von staatlichen Fremd- und privaten Selbstpolitiken gegenüber früherer Zeit gewandelt. Viele der einst vom Staat wahrgenommenen Funktionen sind auf die Individuen verschoben worden. Im Zuge einer Neudefinition der Rolle des Staates sind wohlfahrtsstaatliche Interventionen zwar nicht weniger autoritär, aber mit der Kürzung sozialstaatlicher Leistungen werden die noch vorhandenen Mittel weiterhin an konformes Verhalten geknüpft. Bonussysteme bei den Krankenkassen, die ein bestimmtes Gesundheitsverhalten belohnen, oder Maßnahmen der Gesundheitsförderung in Kooperation mit den Arbeitsagenturen sind nur einige Beispiele. Gesellschaftliche Risiken wie Krankheit, Arbeitslosigkeit oder Armut werden zu Problemen der Selbstorganisation „verantwortlicher“ und „rationaler“ Subjekte transformiert, die nun einen Großteil ihrer Aufmerksamkeit, Zeit und Kraft Fragen der gesunden Lebensführung und der Körperpflege widmen. Das heißt, die Körper werden heute wie eh und je gesellschaftlich reguliert, aber die regulierenden Kräfte haben sich verändert. Die treibenden Kräfte der Gestaltung, Überwachung und Produktion gesellschaftlich anerkannter Körper haben sich teilweise vom Staat zum Markt verschoben.

Der eigene Körper wird zum prominenten Medium und Schauplatz der Selbstversicherung. In seiner Aufrüstung zeigt sich der Wunsch nach Selbstverbesserung. Der Körper wird zum Symbol der Abgrenzung nach unten. Dreh- und Angelpunkt der vielfältigen Selbstmodellierungstechniken ist das Bild des sportlichen Körpers. Sie bezeugt die Lebensführung der Person: Gesundheitsbewusstsein, Selbstdisziplin und Wille zum Stil. Der Körper wird zur „authentischen“ Visitenkarte zum „Club der Leistungswilligen“ und zum Symbol der Abgrenzung nach unten.

Erschienen in:
Körperbilder und Bewegungsspiele (2011)