Leben in der Fremde
Leben in der Fremde
Territorien der Mobilität und das transnationale Netzwerk der Migration
Europäische Städte sind voller Zeugnisse des Fremden. Seit dem 19. Jahrhundert schafft die Größe und Anonymität der Metropole die Voraussetzungen für eine kontinuierliche Begegnung oder Nicht-Begegnung von Menschen, die einander fremd oder unbekannt sind. Die wachsenden Städte des Industriezeitalters waren nicht zuletzt riesige Gemeinwesen von Neuankömmlingen, ehemaligen LandbewohnerInnen und MigrantInnen. Auch die heutigen „global cities“ sind – in noch viel höherem Maß – Territorien der Mobilität auf denen (und durch die hindurch) sich Individuen und Kollektive bewegen, welche unterschiedlichen Mobilitätsklassen zugehören: von privilegierten Geschäftsreisenden bis zu papierlosen Flüchtlingen. In der Stadt ist Fremdheit keine homogene Erfahrung. Die diversen Formen von Fremdheit sind das Resultat unterschiedlicher Formen der Repräsentation, des Konsums und der Kontrolle – ob man nun selbst als „fremd“ kategorisiert wird oder andere als „fremd“ erlebt.
Zur Mythologie des Großstadtlebens in Zeiten der Globalisierung gehört, dass sich das Fremde, Exotische und Andere an der nächsten Kreuzung oder allenfalls ein paar U-Bahn-Stationen entfernt, finden lässt. Das Durchqueren einer großen Stadt, besonders dann, wenn man dafür die Grenzen des eigenen Viertels überschreitet, kann sich als Ortswechsel von touristischem Erlebniswert entpuppen. Besonders der Besuch eines Quartiers mit einem hohen Anteil an migrantischer Bevölkerung verspricht dem Mitglied der Mehrheitsgesellschaft die Begegnung mit Eindrücken, die sonst nur nach einer langen Flugreise erwartet werden dürfen. In vielen Bereichen teilt sich die Mobilität der Migration die Infrastruktur mit der Mobilität des Tourismus: Flughäfen, Bahnhöfe, Autobahnen, aber auch Hotels, Kommunikationsmedien oder Stadtpläne schaffen Räume und Verkehrsformen, in denen sich die Routen unterschiedlicher Mobilitätstypen kreuzen und überlagern.
Anders als in den ersten Jahrzehnten der Arbeitsmigration der Nachkriegszeit spielen heute eine Vielzahl von Faktoren eine Rolle bei der Entscheidung, sich zu diesem oder jenem Ort zu bewegen. Neben den Arbeitsmöglichkeiten und den bestehenden migrantischen Netzwerken kann durchaus auch die Attraktivität einer Stadt bei der Planung des individuellen Migrationsprojekts ausschlaggebend sein. Das kulturelle Image eines Ortes, aber ebenso seine touristisch codierten Vorzüge wie ein angenehmes Klima oder die geografische Nähe von Strand und Meer werden von MigrantInnen ähnlich wie von TouristInnen in die Überlegungen einbezogen. Auch MigrantInnen „konsumieren“ in vieler Hinsicht die Orte, an denen sie sich aufhalten oder niederlassen. Dabei sind die touristischen Qualitäten eines Ortes natürlich nicht zuletzt deshalb für MigrantInnen von Interesse, weil sich mit ihnen Arbeitsmöglichkeiten im Dienstleistungssektor oder in der tourismusnahen Bauwirtschaft verbinden können.
Der so entstehende „Tourismus-Migration-Nexus“ kennt drei wesentliche Ebenen: die Beziehung von Tourismus und Arbeitsmigration, die Verschränkungen von Tourismus und Shopping-Migration sowie den Tourismus der MigrantInnen, die ihre Verwandten und Bekannten besuchen. Es hieße, die Praktiken und Bedürfnisse von Personen im Zustand migrantischer Mobilität zu verkennen, ignorierte man, welche Bedeutung das Erlebnis der Stadt als einer touristischen Umgebung für die Subjektivität von MigrantInnen ebenso wie für die vermeintlich autochthone Bevölkerung haben kann. Wie etwa wirkt es sich auf die Selbst- und Fremdwahrnehmung einer Migrantin aus, dass sie mit einem Tourismusvisum in das Land einreist, in dem sie Arbeit sucht? Nicht selten wechselt ein und dieselbe Person ihre Identität, ist mal „TouristIn“, mal „DienstleisterIn“, mal „KonsumentIn“, mal ProduzentIn einer touristischen Erfahrung.
Multikultureller Städteflair
Zwar gilt das Spektakel einer Urbanität, die maßgeblich das Ergebnis transnationaler Mobilität ist, noch nicht als Hauptgang auf den Menüs der Tourismusindustrie, doch dürfen im Informationsmaterial des Stadtmarketings Hinweise auf das multikulturelle und internationale Flair nicht fehlen. Die Wahrnehmung des Zusammenhangs von Migration und Urbanität ist immer ambivalent gewesen. Von Politik, Polizei und Medien als Problemzonen und Brennpunkte behandelt, werden die Viertel der Einwanderer zugleich als Räume von Differenzerfahrungen und kulinarischen Genüssen konsumiert. Zwischen ideologischen Konstruktionen wie „Ghetto“ oder „Parallelgesellschaft“ und der Faszination für das Andere ganz in der Nähe, zwischen rassistischen und touristischen Diskursen besteht ein unmittelbarer, dialektischer Bezug. Doch wie zeigt sich in der urbanen Textur die Realität der Mobilität in der Metropole? Ein von den BewohnerInnen, aber auch von der Forschung oft übersehenes Element im Erscheinungsbild größerer Städte in Deutschland sind die Einzelhandelsgeschäfte, die sich vor allem an eine Kundschaft mit migrantischem Hintergrund richten. Mini-Supermärkte, Zeitungsläden mit Zigaretten- und Getränkeverkauf, Videotheken mit Filmen in Originalsprache, Geschäfte, in denen CDs mit türkischer, griechischer, albanischer, serbischer oder arabischer Popmusik gehandelt werden, aber auch Afro- oder Asia Shops, Clubs für „Kartenspiele“ und Internet-Wetten, Reisebüros und Mitfahrzentralen formieren sich zu einer eigenen Infrastruktur migrantischen Unternehmertums und Konsums.
Im Unterschied zu Döner-Buden oder Pasta-Tempeln, die in der öffentlichen Diskussion als Indiz erstrebenswerter multikultureller Verhältnisse dienen, entsprechen diese Läden den Bedürfnissen von MigrantInnen. Inzwischen prägen sie die Parterrezonen ganzer Quartiere. Häufig an Ort und Stelle ehemaliger Tante-Emma-Läden, sind die Geschäfte Ausdruck eines zielgruppenorientierten wirtschaftlichen Handelns, aber auch der Bedingungen einer Ökonomie von MigrantInnen in Zeiten von Globalisierung und Neoliberalismus. Denn bei wachsender Arbeitslosigkeit wird auf das Modell des selbstständigen Unternehmertums gesetzt – inzwischen gehen rund 300.000 MigrantInnen in Deutschland einer selbstständigen wirtschaftlichen Tätigkeit nach.
Treffpunkt Call Shop
Ein nicht geringer Teil dieser unternehmerischen Aktivität in der so genannten ethnischen Ökonomie, die zugleich Züge einer zwischen Migration und Tourismus vermittelnden Form des wirtschaftlichen Handelns annehmen kann, widmet sich der Produktion translokaler Räume durch Call Shops. So nennt man hier zumeist die Telefonläden, die in anderen Ländern locutorio, belhuis, call center, téléboutique, phone center, télécafé, phone shop, taxiphone oder ähnlich heißen. Der vornehmliche Geschäftszweck von Call Shops ist die Bereitstellung von Kommunikationsmöglichkeiten über mehr oder weniger große Distanzen zu möglichst günstigen Tarifen. Seit den späten 1990er Jahren haben sich die Call Shops besonders in den migrantisch geprägten Quartieren deutscher Städte ausgebreitet. Die Geschäftsidee des Call Shops entstand im Zuge der Marktliberalisierung, mit der das Staatsmonopol der Deutschen Telekom 1998 aufgehoben wurde.
Call Shops werden zu etwa neunzig Prozent von MigrantInnen in Anspruch genommen. Ein Call Shop liegt in der Regel an einer viel frequentierten Geschäftsstraße, in der Nähe von U-Bahnstationen und Bahnhöfen, an belebten Plätzen. Weil durch die Diversifizierung des Telefongeschäfts der alleinige Betrieb von Telefonkabinen aber nicht mehr rentabel ist, versuchen Call Shops, weitere Dienste wie Sportwetten zu integrieren oder durch den Verkauf von Tabakwaren, Zeitschriften, Getränken und anderer Lebensmittel, durch die Einrichtung eines Imbisses oder das Angebot von Mobilfunkzubehör die Einnahmemöglichkeiten zu steigern. Andererseits erweitern Bäckereien oder Imbisse ihr Angebot, indem sie Telefonkabinen in ihren Räumlichkeiten aufstellen. Die Möglichkeit, eine Calling Card zu erwerben und mit ihr gleich vor Ort, in einer neutralen Telefonkabine mit Sitzgelegenheit, ins Ausland zu telefonieren, wird von den UnternehmerInnen als kundenbindender Service mit Umsatzpotential betrachtet. In den Call Shops materialisieren sich Kommunikations- und Konsumgewohnheiten der Bevölkerung mit migrantischem Hintergrund. Bei der Lebensbewältigung von Leuten, die oft einen großen Teil ihrer Verwandtschaft und Freunde nicht in der unmittelbaren physischen Umgebung wissen, sondern an Herkunfts- und Heimatorten oder an den verstreuten Knotenpunkten in einem transnationalen und multipolaren sozialen Netzwerk, spielt das Telefonieren eine entscheidende Rolle, um „symbolische Nähe“ zur erweiterten Familie aufrechtzuerhalten. Per Telefon werden die Kontakte mit den Verwandten und Bekannten gepflegt, was für alle Seiten sowohl psychologisch wie ökonomisch überaus wichtig ist.
Kulturelle Ent-Ortung
Ein Call Shop ist ein Ort, der sich so oder ähnlich überall dort finden lässt, wo Menschen Ferngespräche führen wollen, ohne einen eigenen Festnetzanschluss zu besitzen. Hergestellt wird hier eine elektronisch-psychologische Verbundenheit (connexity), die unter den Bedingungen der Globalisierung, in individuellen und kollektiven Situationen von räumlicher Trennung und kultureller Ent-Ortung, überlebensnotwendig sein kann. Auch Telefonate ins Handynetz lassen sich im Telefonladen billiger führen als von üblichen Fernsprechern aus. Das Telefonie-Angebot eines Call Shops reagiert damit nicht zuletzt auf die Schwierigkeiten, ohne Aufenthaltstitel oder festen Wohnsitz einen Telekommunikationsvertrag abzuschließen.
Telefonierenderweise wird der Zustand organisiert, der sich einstellt, wenn man nicht dort lebt, wo man herkommt bzw. dort, wo man als Fremde oder Fremder wahrgenommen und behandelt wird. Im Ladenlokal eines Call Shops werden Telefonate im sozialen und transnational gespannten Netzwerk der Migration geführt, hier werden die Jobangebote eines lokalen oder translokalen Arbeitsmarktes vermittelt, hier ist man in der Lage, sich über das nahe und ferne Geschehen auf dem Laufenden zu halten.
Der Call Shop ist ein konkreter physischer und architektonischer Ort, aber auch die Stätte einer spezifischen Geselligkeit und Entspannung. Viele KundInnen eines Call Shops halten sich länger im Laden auf, als es für die Erledigung eines Telefonats notwendig wäre. Man tätigt weitere Geschäfte, wählt den Call Shop als Treffpunkt, benutzt ihn geradezu als Büro oder hält ein Schwätzchen mit dem oder der BetreiberIn und anderen BesucherInnen. Es ist überdies kein Geheimnis, dass Call Shops immer wieder als Drehscheibe krimineller Aktivität zweckentfremdet werden. Und kurz nach den Anschlägen in Madrid vom 11. März 2004 erfuhr die Öffentlichkeit, dass das „Locutorio Nuevo Siglo“ im Madrider Stadtteil Lavapiés einer der Orte gewesen sein soll, von dem aus die Planungen verschiedener terroristischer Zellen in Europa und Nordafrika koordiniert worden sind.
Manche Call Shops richten sich an eine bestimmte ethnische Zielgruppe; Einrichtungsdetails des Ladens, die verwendete Schriftsprache im Schaufenster oder die Auswahl der günstigsten Fernsprechverbindungen können dies bereits von außen signalisieren. Andere wiederum bemühen sich um eine möglichst neutrale Inszenierung des Angebots, indem etwa gar keine oder im Gegenteil sehr viele Zeichen und Repräsentationen der Nationalität wie Flaggen oder Bilder aus der Tourismuswerbung ausgehängt werden. Es handelt sich also in einem Fall eher um einen ethnisch deutlich ausgewiesenen, im anderen um einen eher multinational ausgerichteten, selten aber um einen Ort, dem man das Attribut ‚westlich’ geben würde.
Migration und Tourismus
Diese Produktion neuer städtischer Formen ist eines der genuinen Projekte der Migration. Und es wäre eine nicht nur interessante, sondern politische Aufgabe zu erforschen, welche Bilder dieser „fiktionale Urbanismus“ hervorbringt. Denn wer betritt das Territorium eines Call Shops, wer setzt sich der immersiven Erfahrung des Aufenthalts in einem Telefonladen aus? Für Leute ohne oder mit migrantischem Hintergrund, die über einen heimischen Festnetzanschluss und damit über die entsprechenden Dokumente der Legitimität verfügen, erübrigt sich der Gang in den Call Shop zumeist. In vielen Fällen weiß man gar nichts von der Existenz solcher Geschäfte, weil sie keine Bedeutung im eigenen Alltag haben.
Postkoloniale Reisebilder wären insofern häufig gerade solche Bilder, die man nicht sieht, weil das, was sie zeigen, einen nichts anzugehen scheint. Die sichtbare Organisation von Alltag, Öffentlichkeit und Leben in der Mobilität findet so lange unterhalb der Wahrnehmungsschwelle der mehrheitsgesellschaftlichen Individuen statt, bis diese selbst auf die hier entstehenden Infrastrukturen angewiesen sind. Dann kann sich unter Umständen erweisen, dass in der mittelbaren oder unmittelbaren Umgebung ein gleichsam touristisches Leben mit entsprechenden Ökonomien und Kommunikationswegen entstanden ist, das sich der gegebenen Umwelt mal bedient, mal verschließt, ganz so wie es das System des Tourismus an den Orten tut, wo man es erwartet.
Die Erfahrung hingegen, dass auch zu Hause, also dort, wo man herkommt, Leute eine Existenz führen, die irgendwo zwischen Arbeitsalltag, Klandestinität und touristischer Erfahrung der Fremde changiert, machen die meisten Mitglieder der Mehrheitsgesellschaft, wenn überhaupt, im Ausland, oft genug als TouristInnen. Den ersten Telefonladen entdeckt man dann nicht in der Einkaufsstraße im eigenen Kiez, sondern in einem spanischen oder thailändischen Urlaubsort, auf der Suche nach dem günstigsten long-distance-Tarif. Willkommen in der Welt der Mobilität.
Erschienen in
Grenzgänger - Migration & Tourismus (2008)