Grenzschutz ist überall

veröffentlicht am Rassismus & Migration

Rassismus & Migration Grenzschutz ist überall

Entwicklungen europäischer Grenzpolitik

Nur an wenigen Orten der Welt ist eine Grenze so ausgeprägt eine Demarkationslinie zwischen Wohlstand und Armut wie die europäisch-afrikanische Grenze irgendwo im Mittelmeer. Zugleich werden sich wenig Grenzen finden lassen, die so wenig tatsächlich greifbar sind – durch ein Meer muss man eben keine Sperranlage bauen wie durch die Wüste zwischen Mexiko und den USA.
Es ist wesentlicher Teil der Schaffung eines „Raums der Sicherheit, der Freiheit und des Rechts“ innerhalb der Europäischen Union, an der Undurchlässigkeit dieser Grenze keinen Zweifel zu lassen. Schon lange haben die zuständigen Minister erkannt, dass das nur gelingt, wenn das Grenzregime auch räumlich ausgedehnt wird – diesseits und jenseits der Staatsgrenzen. Der Grenzsschutz selbst ist politisch nicht mehr nur einfach Grenzschutz, sondern eingebunden in die gemeinsame Europäische Außen- und Innenpolitik.

Vorverlagerung der Grenzen: Modellfall Deutschland

Nach dem Ende des Kalten Krieges Anfang der 1990er Jahre sollte es nicht lange dauern, bis das Asylrecht zur Disposition gestellt wurde. Seine Bedeutung als politisches Instrument zur Aufnahme tausender Ostblockflüchtlinge hatte es verloren. Aus bemitleidenswerten Verfolgten, die vor dem Kommunismus flohen, wurden „Wirtschaftsflüchtlinge“ und „Scheinasylanten“. Die rassistischen Pogrome von Rostock, Solingen und Mölln waren Ausdruck einer gesellschaftlichen Stimmung, aus der schließlich die Spitzen der beiden Volksparteien die Rechtfertigung zogen, dem Asylrecht den Garaus zu machen. Doch schon damals sah man im Innenministerium, dass die alleinige Einschränkung des Asylrechts in Deutschland nicht ausreichen würde, Menschen von ihrer Flucht nach Deutschland abzuhalten. Daher wurde mit der faktischen Abschaffung des Rechts auf Asyl 1993 zugleich ein Mechanismus entwickelt, den Druck auf die Nachbarländer zu erhöhen, niemanden mehr durchzulassen: die Konstruktion der „sicheren Drittstaaten“. Wer über einen „sicheren Drittstaat“ einreist, wird gleich wieder „zurückgeschoben“. Zwischenstaatliche Rückübernahmeabkommen regeln die Einzelheiten.
Zugleich wurden den osteuropäischen Nachbarn Mittel zur Verfügung gestellt, ihre eigenen Grenzen dicht zu machen. Mit dem Rückübernahmeabkommen zwischen Deutschland und Polen von 1993 waren Mittel in Höhe von 120 Millionen DM verbunden.
Innerhalb Deutschlands wurde der Grenzschutz ins Landesinnere verlagert. Der Bundesgrenzschutz (die heutige Bundespolizei) bekam 1995 erweiterte Kompetenzen für die Kontrolle des „rückwärtigen Grenzraums“. Er umfasst einen 30 Kilometer breiten Streifen hinter der Grenze, Transitstraßen und Bahnhöfe mit internationaler Anbindung. Zu Hochzeiten waren an der ostdeutschen Grenze ca. 6.000 Beamte im Einsatz.
Das Konzept der Abschreckung hat sich bewährt. Nach Angaben des Bundesinnenministeriums gibt es mittlerweile an der Grenze zu Polen, Tschechien und der Schweiz deutlich weniger festgestellte illegale Einreisen als über die Grenzen zu Frankreich, den Benelux-Staaten und Österreich (2005 ca. 3.200 zu ca. 9.500). Wie sich diese Zahlen nach der nun erfolgten Grenzöffnung zu Polen und Tschechien entwickeln werden, bleibt abzuwarten.

Ein Modell macht Schule

Seit 2008 hat die Bundesrepublik keine Landgrenze mehr, die gleichzeitig eine Außengrenze des „Schengen-Raums“ ist. Die Kontrollen an den Grenzen zu den benachbarten osteuropäischen EU-Staaten und zur Schweiz sind abgeschafft. Rechtliche Grundlage sind der Schengener Vertrag über den Wegfall der Grenzkontrollen an den Binnengrenzen und das Schengener Durchführungsübereinkommen (SDÜ) über die Ausgleichsmaßnahmen. Die Ausgleichsmaßnahmen enthalten neben den oben beschriebenen Kompetenzen der Bundespolizei auch das „Schengener Informationssystem“, ein riesiger Fahndungsdatenverbund. Hier sind fast 800.000 Drittstaatenangehörige zur Einreiseverweigerung ausgeschrieben – zum Beispiel, weil sie bereits versucht haben, illegal einzureisen.
Mittlerweile wurde die Politik der Vorverlagerung der Flüchtlingsabwehr in der Europäischen Union institutionalisiert. Sie ist integraler Bestandteil der so genannten „Nachbarschaftspolitik“. Deren Schwerpunkt ist die Schaffung eines wirtschaftlichen Vorhofs der Europäischen Union – wechselseitige Handelserleichterungen, Angleichung im Wirtschafts-, Privat- und Strafrecht und eine Reihe weiterer Maßnahmen neoliberalen Staatsumbaus. Die Staaten sollen so an die Standards der EU „herangeführt“ werden. „Partner“ sind die ehemaligen Sowjetrepubliken, die Nachfolgestaaten Jugoslawiens und die Mittelmeeranrainer. Teil des Maßnahmenkatalogs sind auch der Ausbau des Grenzregimes, der Abschluss von Rückübernahmeabkommen, die – zumindest formale – Erfüllung der Anforderungen des internationalen Flüchtlingsrechts sowie ein erleichterter Zugang zu Schengen-Einreiseerlaubnissen (Visa).
Die nordafrikanischen Staaten erweisen sich dabei als der mit Abstand schwierigste Partner. Der Weg zu Rückübernahmeabkommen ist dort oft kompliziert, wobei es häufig wie etwa im Falle von Lybien und Italien bereits bilaterale, weniger offizielle Absprachen gibt. Der EU ist es bei der Aushandlung solcher Abkommen unwichtig, ob es in diesen Ländern überhaupt eine Umsetzung menschenrechtlicher Standards oder eine ernsthafte Bekämpfung der Korruption gibt. Europäische Touristen interessieren sich auch selten für die Lebenssituation der Menschen außerhalb ihrer Hotels. Die Genfer Flüchtlingskonvention ist von manchen dieser Staaten nie ratifiziert worden.
Trotzdem macht die EU „Fortschritte“ bei der Abwehr von Flüchtlingen aus den afrikanischen Staaten. Motor der Entwicklung ist die „Agentur für die operative Zusammenarbeit an den Außengrenzen der Mitgliedsstaaten der EU“, kurz und schneidig „FRONTEX“ genannt. Nachdem ihr zunächst nur koordinierende Funktion zukam, sind nun auch die Voraussetzungen für „Soforteinsatzteams“ geschaffen, die unter der Ägide eines anfordernden Mitgliedsstaates operieren werden. Die europäischen Grenzpatrouillen fangen die Boote noch in der erweiterten 12-Meilen-Zone vor der afrikanischen Küste ab. Mauretanien und Senegal hindern die Flüchtlinge selbst an der Überfahrt. Lybien zeigt mit dem Aufbau von Grenzsicherungsanlagen und Massendeportationen, dass es nicht mehr als Transitstaat dienen will.

FRONTEX als Beispiel einer neuen Sicherheitspolitik

Seit dem, vor allem in Deutschland betriebenen, Umbau der „Sicherheitsarchitektur“ verschwimmt die Grenze von „äußerer“ und „innerer“ Sicherheit. Das Feindbild des islamistischen Kämpfers legitimiert das zentrale Projekt konservativer Innenpolitik, im vermeintlichen „Notfall“ jede Grenze staatlichen Handelns aufheben zu dürfen: vom Einsatz der Bundeswehr im Innern über die gezielte präventive Tötung von mutmaßlichen Terroristen bis hin zur Abschaffung des Folterverbots. Ebenso „ganzheitlich“ wie die Bekämpfung des Terrorismus soll auch die Bekämpfung „illegaler Migration“ vonstatten gehen. Im „ganzheitlichen Ansatz“ sollen alle Behörden zusammenarbeiten, die in irgendeiner Weise mit dem „Phänomenbereich“ zu tun haben.
Mit dem „Gemeinsamen Analyse- und Strategiezentrum illegale Migration“ (GASiM) in Berlin-Treptow wurde eine Arbeitsstruktur dafür geschaffen. Horizontal und hierarchiefrei tauschen auf dieser Plattform Vertreter von Bundesamt für Migration und Flucht, Bundespolizei, BKA, BND, Zollkriminalamt (Bekämpfung illegaler Beschäftigung) und zuständige Landesbehörden Informationen aus.
Neben dem üblichen Feindbild „Organisierte Kriminalität“ wird ein weiteres wichtig: das Einsickern von islamistischen Terroristen über die „illegale Migration“. Der Zusammenhang wird selbst vom Bundesnachrichtendienst geleugnet. Dennoch steuert er aus seiner Arbeit nebenbei anfallende Erkenntnisse über Fluchtrouten und geplante Schleusungen zur Analysetätigkeit bei.
Frontex funktioniert zumindest im Analysebereich ganz ähnlich. Aus den Mitgliedsstaaten liefern Experten ihre Erkenntnisse, und die stammen selbstverständlich auch aus nachrichtendienstlichen Quellen. In den Jahresberichten von Frontex wird dieser „erkenntnisgeleitete Grenzschutz“ als innovatives Konzept gefeiert. Denn die Analyseergebnisse fließen unmittelbar in die Arbeit der „Frontex Joint Support Teams“ ein, die dann entsprechende Abwehrmaßnahmen der betroffenen Mitgliedsstaaten koordinieren.
Um es an einem fiktiven Beispiel vorzuführen: der französische Geheimdienst erhält in Beirut Informationen über einen neuen Schleusungsweg für irakische Flüchtlinge über Jordanien und Ägypten nach Lybien. Spionagesatelliten sind dann in der Lage, entsprechende Bewegungen an der ägyptisch-lybischen Grenze sowie einen möglichen Startpunkt für die Überfahrt über das Mittelmeer auszumachen. Dort werden dann griechische, maltesische und italienische Patrouillenboote zusammengezogen, die Flüchtlingsboote aufgebracht und zur Rückkehr gezwungen. Der anschließende Bericht wird Grundlage für Gespräche zwischen der EU und Ägypten zur „Verbesserung der Kooperation in Grenzschutzfragen und Erleichterungen bei der Visa-Vergabe“ – denn das ist der Deal: Effektivieren die Eliten des jeweiligen „Partners“ ihr Grenzregime, gibt es für sie Einreiseerleichterungen für den Kurzurlaub in Paris oder Berlin. Feinjustierungen einer geografischen Grenze, die zugleich Armutsgrenze ist. Denn grundsätzlich ist auch ein Afrikaner in Europa willkommen. Wenn er kommt, um Geld auszugeben und danach wieder heimfährt.
Eine Verbindung zur Inneren Sicherheit und zum Militär besteht auf verschiedenen Ebenen: Frontex kooperiert eng mit dem Europäischen Polizeiamt Europol, das ebenfalls die Bekämpfung illegaler Migration auf der Agenda hat. In der Forschung beteiligt sich Frontex an Projekten, die aus dem EU-Forschungstopf „Global Monitoring for Environment and Security“ finanziert werden. Der britische Bürgerrechtlicher Ben Hayes nennt diesen Bereich der EU-Forschungsförderung in einer Studie für die Bürgerrechtsorganisation statewatch „militärisch-sicherheitstechnologischen Komplex“: so geht es beispielsweise bei der Überwachung von geografischen Räumen um „dual-use“-Technologien, die sich sowohl in der Grenzsicherung als auch für die taktische Zielaufklärung im Krieg verwenden lassen.
Besonders originell bei der Begründung für den massiven Ausbau der Grenzsicherung im Mittelmeer war einmal mehr Bundesinnenminister Schäuble. Zum einen sei ein zu lascher Grenzschutz (wie die Legalisierung derjenigen, die es geschafft haben) ein wichtiger „pull“-Faktor illegaler Migration. Zum anderen müssten die „illegalen“ Migranten quasi vor sich selbst bzw. den skrupellosen Schleusern geschützt werden, die sie in seeuntüchtigen Booten über das Mittelmeer oder sogar den Atlantik schicken. Dabei sind doch die hohen Hürden für eine legale Einwanderung dafür verantwortlich, dass zehntausende Afrikaner den gefährlicheren und teureren Weg über das Meer wählen und nicht einfach ein Flugzeug nehmen.
Doch der Schwerpunkt der illegalen Migration liegt weiterhin an den östlichen Landgrenzen Polens und in Südosteuropa (die so genannte „Balkan-Route“). Frontex wies in einem Bulletin auf die steigenden Zahlen bei Aufgriffen „Illegaler“ an den östlichen Grenzen hin: An der griechisch-türkischen Landgrenze verdoppelten sich die Zahlen innerhalb eines Jahres, an der Seegrenze verdreifachten sie sich sogar.
Weitgehend unbemerkt von der Öffentlichkeit wurde in den neuen EU-Staaten, die die Landaußengrenze des Schengenraums markieren, schon lange an der „technischen Grenzsicherung“ gearbeitet. An der polnisch-weißrussischen Grenze zieht sich eine Sperranlage durch die Pampa. In den Grenzgebieten wurden seit den 1990ern mit Hilfe von EU-Infrastrukturprojekten Lager für diejenigen errichtet, die es dennoch über die Grenze geschafft hatten. Dort wurden und werden sie registriert und anschließend „rückgeschoben“. Die Zustände in den Lagern sind so katastrophal und menschenrechtswidrig wie die Lager selbst. Unbeirrt werden schon Lager außerhalb des EU-Territoriums eingerichtet, die festgenommene Flüchtlinge noch vor dem Grenzübertritt aufnehmen sollen. Die Errichtung dieser Lager, die vorgeblich zum Schutz der Migranten gedacht sind, unterwandert die europäischen Menschenrechtsstandards. Dies zeigt einmal mehr, den großen Widerspruch zwischen der Flüchtlingspolitik und der Menschenrechtspolitik der Europäischen Union.

Erschienen in
Grenzgänger - Migration & Tourismus (2008)