Es gibt kein Ende der Geschichte - Antinationales zu den Wendefeierlichkeiten im November 2009
Es gibt kein Ende der Geschichte - Antinationales zu den Wendefeierlichkeiten im November 2009
Am 9. November 2009, pünktlich zum 20. Jahrestag des Mauerfalls, veranstaltete Deutschland ein großes Fest und feierte mal wieder sich selbst. Es gibt viele Gründe, dagegen zu sein. Deshalb riefen zahlreiche Gruppen Anfang November zur Antinationalen Demonstration auf. Gemeinsam mit der Emanzipative Antifaschistische Gruppe [EAG], ...nevergoinghome., der gruppe subcutan und den Jungdemokrat_innen/Junge Linke Brandenburg haben wir einen Aufruf verfasst, den ihr euch weiter unten anschauen könnt.
Es gibt kein Ende der Geschichte!
Aufruf zur Antinationalen Demonstration gegen die Wendefeierlichkeiten
Am 09.11.2009 feiert Deutschland den Fall der Mauer und damit sich selbst und den Sieg des Kapitalismus in der Systemkonkurrenz. Nach den Erzählungen, die dieses Datum umrahmen, haben die Deutschen aus eigener Kraft und aus Antrieb zu Freiheit und Einheit die Mauern, die sie trennten und einengten, niedergerissen. Diese Feier bildet den Höhepunkt im „Supergedenkjahr“ 2009, in dem sich die deutsche Nation über verschiedene Jubiläen – 60 Jahre Grundgesetz, 20 Jahre Mauerfall und 2000 Jahre Varusschlacht – seiner Identität vergewissert. Diese nationale Identität wird über die zentralen Begriffe Einheit und Freiheit konstruiert. Dabei heißt „Einheit“ die Einheit eines nationalen Kollektivs, das sich nur durch Abgrenzung und Ausschluss von „Anderen“ als solches begreifen kann. „Freiheit“ heißt dabei gleich zweierlei: Es heißt einerseits die Freiheit zur nationalen Selbstbestimmung als Befreiung von den „Ketten der Alliierten“ und der Möglichkeit auf der internationalen Bühne als vollsouveräner Akteur wieder mitspielen zu dürfen. Zum anderen meint Freiheit hier die Erlangung der Bürgerrechte, d.h. das freundliche Zugeständnis des Staates auf den direkten Zugriff auf die Einzelnen weitgehend zu verzichten.
Deutschland – ein Novembermärchen
Der 9. November 1989 soll, angestoßen von den Montagsdemonstrationen in Leipzig, seinen Grund gehabt haben im unbedingten Willen zur Freiheit der Deutschen in der DDR. Dabei wird dem Willen zur Freiheit – gemeint ist immer die bürgerliche Freiheit – der Wille zur Einheit immer gleich mit untergeschoben, auch wenn das bei der vielfältigen Oppositionsbewegung in der DDR nicht überall der Fall war.
Die Rufe „Wir sind das Volk“ und „Wir sind ein Volk“ erscheinen so, als gingen sie notwendig auseinander vor. Der Umschlag von der zunächst bloß demokratischen Forderung nach Partizipation in den völkischen Traum nationaler Wiedergeburt erscheint als logische Konsequenz. Freiheit, das kann für die Mehrheit nur heißen: nationale Freiheit, d.h. volle nationale Souveränität, Wiedererlangung der verlorenen organischen Ganzheit.
Dass die Vereinigung von zwei Staaten als Wiedererlangung eines natürlichen Zustandes gegenüber einer unnatürlichen Trennung verstanden wird, ergibt sich, wenn die Nation als Natur verstanden wird. Nicht die Zusammenfassung der Bevölkerung eines Gebietes unter eine gemeinsame Herrschaft soll aus gewöhnlichen Menschen Deutsche machen, sondern das Deutschsein soll natürliche Eigenschaft sein, die sie vor aller staatlichen Passausgabe vom Rest der Welt schon immer unterschieden hatte.
Genau diese vermeintliche Naturhaftigkeit ist die moderne Ideologie der Nationen. Begründet wird sie mit der Erfindung einer langen Geschichte, auf die das imaginierte Volk zurückblicke: seien es nun die 2000 Jahre, vor denen die Germanen ihre Freiheit gegenüber den römischen Besatzern erkämpften und die Stämme einten, sei es die von Guido Knopp ins Spiel gebrachte mythologische Zahl von 1000 deutschen Jahren. Nationalismus ist dabei immer auf eine Geschichtsschreibung angewiesen, die am Ende auf ein positives Selbstbild hinausläuft, auf den Nachweis, dass die eigene Nation dem Wesen nach eine gute Nation ist und schon immer war. Das ist freilich schwierig im Lande des industriellen Massenmordes.
Angesichts dieses Dilemmas hätte den Deutschen wahrlich nichts Besseres geschehen können, als dass die Mauer ausgerechnet am 9. November fiel. So kann die Reichspogromnacht am 9.11.1938 getrost in den Hintergrund treten. Selbst wenn ihr im Sinne der Aufarbeitung doch staatlich gedacht wird, so kann sie in der Reihe großer Geschichtsdaten am 9. November – zeitgleiche Ausrufung der Republik durch Scheidemann und der sozialistischen Republik durch Liebknecht 1918, Hitler-Ludendorff-Putsch 1923 und eben Mauerfall 1989 – als Teil der schmerzlichen Geschichte der Deutschen auf ihrem widersprüchlichen Weg zur Freiheit gelesen werden. So müssen Pogrom, Shoah und Vernichtungskrieg gar nicht geleugnet werden, sondern werden als schlimmes Erbe auf sich genommen, um sich an der Aufarbeitung zu erbauen. Größtmögliche Verbrechen bedeuten so eben auch größtmögliche Aufarbeitung und damit größtmögliche moralische Erhebung. An diesem Selbstbild tut auch der Umstand keinen Abbruch, dass der koloniale Völkermord an den Herero nach wie vor verdrängt wird.
Mit dem 9. November 1989 kam die deutsche Geschichte an ihr gutes Ende, hier fand das deutsche Volk nach „zwei durchlittenen Diktaturen“ zu sich selbst und einte sich in Freiheit. Das Märchen hat ein Happy End.
Freiheit – eine Farce
Was in dem deutschen Märchen allerdings mit „Freiheit“ gemeint ist, ist nicht die Freiheit, die wir wollen. Denn die Freiheit, die die bürgerlichen Revolutionen mit der Gründung der Nationalstaaten versprachen, war immer schon Zwang zu Lohnarbeit und Kapitalverwertung. Bürgerliche Freiheit ist die Freiheit des eigenen egoistischen Willens gegen alle anderen, der sich nur durch Gesetze begrenzen lässt. Für die Besitzenden ist es die Freiheit, über ihr Eigentum ungeachtet der Bedürfnisse der anderen frei zu verfügen, Arbeitskraft zu kaufen um mit deren produktiver Anwendung ihren Reichtum zu vermehren. Für den großen Rest ist es die Freiheit, entweder ihre Arbeitskraft auf dem freien Markt anzubieten oder aus dem ohnehin kärglichen Hartz IV heraus zu fallen. Wer Arbeit hat, produziert den nationalen Reichtum mit, bleibt aber selbst davon weitestgehend ausgeschlossen. Der Staat garantiert so das Kapitalverhältnis als Freiheit. Dieses zwingt Lohnabhängige immer wieder in den freien Tausch von Arbeitskraft gegen deren bloßen Gegenwert: das bisschen, was zum Leben eben reicht. In diesem ‘gerechten Tausch' reproduziert sich so beständig das Ausbeutungsverhältnis. Mit der Sicherung bürgerlicher Freiheit hält der Staat die Bedingungen für diesen Prozess gewaltsam aufrecht. Auch da, wo bürgerliche Freiheit meint, dass der Staat sich in den Übergriffen auf seine Bevölkerung durch Selbsterklärung zurückhält, ist diese Freiheit nichts, wofür wir uns bedanken: wir wollen nicht partiell von staatlicher Herrschaft unbehelligt sein, sondern diese Herrschaft überhaupt nicht haben. Ohnehin kann der Staat diese Freiheitsrechte auch immer wieder einschränken und tut dies auch gerade, wo es geht.
Der zweite Aspekt der Freiheit, der im deutschen Märchen auftaucht, ist die Freiheit Deutschlands, sein Schicksal „wieder“ selbst in die Hand zu nehmen. Anders ausgedrückt: das „wiedervereinigte“ Deutschland führt erneut für seine Interessen Krieg, sieht sich als aufstrebende Großmacht, stellt sich bei den Feierlichkeiten zum D-Day selbstbewusst an die Seite der Siegermächte des Zweiten Weltkriegs und ist bestrebt, endlich auch einen ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat zu bekommen. Seit die Deutschen nicht mehr trotz sondern wegen Auschwitz Krieg führen, scheinen sich die Argumente gegen deutsche Großmachtpolitik erledigt zu haben.
Einheit ohne Einlass
Das Einheitsgefühl der Deutschen, das bei den Feierlichkeiten zum Mauerfall erneut aufgerufen wird, überbrückt die tiefer werdende Spaltung der Gesellschaft in der Krise und erscheint als alle verbindendes gemeinschaftliches Band. Nicht die kapitalistische Ausbeutung erscheint der Mehrheit als die Negation des guten Lebens, sondern das ungewisse Schicksal der deutschen Nation in der globalen kapitalistischen Konkurrenz. Der Erfolg in dieser Konkurrenz entscheidet schließlich über den nationalen Wohlstand, der zumindest in seinem Rückgang für alle schmerzlich fühlbar ist. Doch „bei uns“ gibt es eine Sozialpartnerschaft und hier ziehen alle an einem Strang und schicken sich an, noch mehr Opfer für den nationalen Erfolg zu bringen.
Gerade in der Krise werden die undurchschauten Mechanismen des globalen Kapitalismus als Gefahr von außen gedeutet und personalisiert: raffgierige Spekulanten und „Heuschrecken“ aus dem Westen sowie Billigarbeitende aus dem Osten bedrohen gleichermaßen den guten rheinischen Kapitalismus, der angesichts des internationalen Hauens und Stechens volksgemeinschaftliche Wärme verspricht. Die in dieser Deutung enthaltene Trennung von mit dem deutschen Wesen assoziierter „Realwirtschaft“ und mit den USA in Verbindung gebrachte „Finanzwirtschaft“ macht den Übergang zu einer antisemitischen Welterklärung jederzeit möglich.
Die Einheit des Volkes, die immer wieder beschworen wird, kann sich immer nur über ein Außen begreifen, über die, die nicht Teil dieser Einheit sind. Gleich nach der „Wiedervereinigung“ dessen, was angeblich immer schon zusammengehört hatte, machten „die Deutschen“ daher sehr schnell klar, wer nach ihrer Ansicht nicht zu diesem neuen Deutschland gehörte: Die pogromartigen Ausschreitungen Anfang der 1990er Jahre gegen Asylsuchende, „Ausländer“ und andere, die nicht ins Bild der Volksgemeinschaft passten, wurden unterstützt von einer selten zuvor gesehenen Medienhetze. Politiker_innen aller Parteien stimmten in die Rufe mit ein und als sich wirklich alle einig waren, dass „das Boot voll“ sei, wurden die Toten mit Lichterketten betrauert und schließlich das Grundrecht auf Asyl 1993 abgeschafft. Heute hat das „wiedervereinigte“ Deutschland eine der schärfsten Asylgesetzgebungen der Welt. Während man in der Rückschau auf den Mauerfall so stolz ist auf die Reisefreiheit, verbietet die Residenzpflicht Flüchtlingen in Deutschland nicht nur, die Verwandten im Westen zu besuchen, sondern auch die im benachbarten Landkreis.
Einheit der Nation heißt also immer Ausschluss derer, die da scheinbar nicht dazugehören, einer vermeintlich „deutschen Leitkultur“ nicht entsprechen (wollen) oder von der weißen deutschen Mehrheitsgesellschaft als „nicht integrierbar“ definiert werden.Zum Schutz des Wohlstands und der nationalen Identität sterben jährlich tausende Flüchtlinge an den EU-Außengrenzen, zehntausende werden bereits in Lybien, Marokko oder Algerien in Auffanglagern eingesperrt. Tausende Roma, die vor den Pogromen aus dem Kosovo geflohen waren, sollen auf besonderes Betreiben der deutschen Regierung und entgegen der Ratschläge aller internationalen Organisationen in das Kosovo abgeschoben werden. Im Deutschland der Gegenwart verbrennen Schwarze und People of Colour in Polizeigewahrsam, werden bei der Brechmittelzwangsvergabe getötet oder, wenn sie sich gegen Neonazis zur Wehr setzen, zu Gefängnisstrafen verurteilt. Rassismus ist kein Randphänomen, sondern Teil der deutschen Normalität und der Logik des Staates.
Die mit dem Mauerfall gefeierten Freiheiten bedeuten neue Zwänge, neue Herrschaft. Sie bedeuten die abstrakte Herrschaft des kapitalistischen Marktes und den rassistischen Ausschluss für alle, die der Einheit in Freiheit nicht angehören. Beides, Zwänge und Ausbeutung im Kapitalismus und der Ausschluss aller, die nicht zum nationalen Kollektiv gehören dürfen, ist für uns nicht hinnehmbar.
Schon gar nicht bedeutet der 9. November das glückliche Ende der Geschichte. Die deutsche Geschichte hat nur dann ein Happy End, wenn es wirklich das Ende deutscher Geschichte ist, wenn Deutschland am Ende ist. Wenn Nationalstaaten und Kapitalismus endlich nur noch dort zu finden sind, wo sie hingehören: In den Geschichtsbüchern einer befreiten Gesellschaft.
Wir haben nichts zu feiern!
Kommt alle zur Antinationalen Demonstration am 07.11.2009, 16:00, Checkpoint Charly
Diesen Aufruf haben verfasst:
Emanzipative Antifaschistische Gruppe [EAG], Naturfreundejugend Berlin, ...nevergoinghome., gruppe subcutan, Jungdemokrat_innen/Junge Linke Brandenburg