Bilder ohne Ende

veröffentlicht am Rassismus & Migration

Rassismus & Migration Bilder ohne Ende

Zur Konstruktion des Fremden in Geschichte und Gegenwart

Der Tourismus lebt von den Bildern im Kopf und von Projektionen. Diese sind nicht nur, aber auch von Stereotypen und rassistischen Konstruktionen geprägt. Die aktuellen Debatten um Integration und Flüchtlingsabwehr sowie die damit verknüpften Rassismen legen es daher nahe, sich mit der Geschichte von Rassismus, Tourismus und deren Verknüpfungen zu befassen.
Die ersten, die ein detailliertes Bild der außereuropäischen Fremde zeichneten, waren Missionare, Händler, Forscher oder Abenteurer. Sie waren die, wie H.M. Enzensberger in seiner „Theorie des Tourismus“ (1958) schrieb, Touristen-avant-la-lettre, Touristen vor der Entstehung des Tourismus. Die Erlebnisse dieser „Tourismuspioniere“ prägten in Form von Forschungsberichten, Gemälden und Reiseromanen entscheidend die frühen Bilder der (kolonialisierten) Fremde.
Bereits um 1600 erschienen europaweit die ersten breit rezipierten und mit Kupferstichen illustrierten Reiseberichte der „Neuen Welt«. Hier fanden sich Wunder wie Schrecken der fernen Länder einprägsam in Szene gesetzt. Von Anfang an war die Vorstellung der „neu entdeckten Welt“ von widersprüchlichen Bildern durchdrungen: zum einen schien dort das in Europa verloren gegangene Überbleibsel des Paradieses weiter zu bestehen, bewohnt von „edlen, naturverbundenen Wilden«. Zum anderen erschien die Fremde stets auch bedrohlich, unbezwingbar und voller Kannibalen, die nicht nur die Körper, sondern auch die (zivilisierte) Identität der Europäer zu verschlingen drohten.

Einschließender Weltmarkt...

Anfangs blieben die Beschreibungen der Einheimischen noch recht vage. Wichtig war zunächst nur, ob sie für die eigenen Aktivitäten gefährlich werden könnten. Je stärker sie jedoch in den sich entwickelnden, arbeitsteiligen Weltmarkt eingebunden wurden, desto größer wurde das Interesse an ihnen. Zudem wuchs der Druck, den Kolonialismus zu rechtfertigen. Es bedurfte einer „universellen“ Erklärung für das entstandene System der Ungleichheit und der Rolle der „Anderen“ darin.
Durch Sklavenhandel und Kolonisation wurden „das Selbst und der Andere gleichermaßen in einer gemeinsamen Welt von (europäischen) Bedeutungen eingeschlossen«, schreibt dazu der Rassismustheoretiker Robert Miles. Diese Art des Ausschlusses ist nach dem Kapitalismuskritiker Immanuel Wallerstein eine spezifische Variante der Moderne. Wurden demnach in früheren Systemen einige Menschen eingeschlossen und andere ausgeschlossen, so ist das kapitalistische Weltsystem so organisiert, dass es „Menschen ausschließt, indem es Menschen einbezieht«.
Erst durch ihre formale Integration in eine gemeinsame Bezugswelt werden die Anderen als „abweichende Objekte“ sichtbar gemacht. Und diese ausgemachte Differenz wird stetig durch ein ganzes Ensemble von gesellschaftlichen Institutionen wie Arbeitsmarkt, Nationalstaat und Kultur reproduziert. Der sich entwickelnde Rassismus produziert also erst die Gruppen, unter anderem über ihre unterschiedliche Position im gesellschaftlichen Machtverhältnis, und versieht dann diese Unterscheidung mit kultureller Bedeutung. Denn in modernen Gesellschaften bedarf solch eine dauerhafte Ungleichheit einer Erklärung, die den konkreten Zwang ignoriert und die Ursache bei den „Anderen“ verortet. „Ein kollektives Scheitern muss daher mit irgendeiner ‚inneren’ Beschaffenheit einer ganzen Reihe von Menschen zu tun haben – einer natürlichen Disposition«, so der Autor Mark Terkessidis über die „Psychologie des Rassismus«.
Es bildet sich neues Wissen über die produzierten Gruppen aus, das auf die eine oder andere Weise immer erklärt, warum wer welche Rolle innehat. Ausgrenzungspraxis und Differenzproduktion verstärken sich dabei gegenseitig. Unser Wissen über die Anderen erklärt und legitimiert deren Ausgrenzung. Diese bestätigt wiederum unser Wissen und unsere kulturellen Ausdrucksformen. So vermutete etwa der Philosoph Immanuel Kant, dass die Einheimischen Amerikas aufgrund einer Mischung aus Luftsäuren und „laugenhaft-gallichten Säften“ schwach seien, weshalb es nötig sei, andere, stärkere „Arbeitskräfte“ – Sklaven – hinzuzuziehen. Dank solchen „wissenschaftlichen Erkenntnissen“ wurden auch die brutalsten Gewaltverhältnisse der internationalen Arbeitsteilung naturalisiert.

... ausschließende Differenz

Diese „Verwissenschaftlichung“ der Erklärungen und Beschreibungen ging einher mit der Ablösung der Kirche als einzig sinnstiftender Institution. Waren vorher die Anderen noch Teil der gleichen Menschheit – wenn auch auf „unterschiedlichen Entwicklungsstufen“ – so wurde nun ein hierarchisches System verschiedener „Rassen“ wissenschaftlich hergeleitet. An die Stelle der kulturellen Entwicklungsskala, in der ein Aufstieg theoretisch möglich war, trat eine Rangordnung „objektiv höherwertiger Rassen«. Der biologistische Rassismus nahm also die Rechtfertigung des kolonialen Ausbeutungsverhältnisses auf und trachtete dieses durch das Postulat einer natürlichen, dauerhaften Hierarchie zu verewigen.
Um dieses Konzept zu unterfüttern und zu veranschaulichen, entstand ein ganzer Kanon von Ideen über das Wesen des „Anderen“ und die eigenen Werte der „europäischen Zivilisation«. Dies führte ab dem 18. Jahrhundert zu einem wahren Boom an Reiseliteratur. Kants Traktat „Bestimmung des Begriffs einer Menschenrasse“ basiert beispielsweise einzig auf den Berichten von anderen Forschungsreisenden. Kant selbst ist nie gereist. Um sich ein Bild von der Fremde und ihren BewohnerInnen zu machen, ist die tatsächliche Reise anscheinend nicht nötig.
An diesem Beispiel zeigt sich besonders deutlich, dass bei den imaginären Identitätszuschreibungen nicht nur die Bilder des Anderen geschaffen werden, sondern auch das eigene Selbstbild. Der Andere dient dabei als Negativspiegel des vermeintlich Eigenen, er ist Folie eines spiegelverkehrten „Sich-Ansehens«. Man sagt nicht „Das bin ich«, sondern „Das bin ich nicht!“ Erst in Abgrenzung zum Anderen werden die eigenen Werte und Selbstbilder hervorgebracht. Weil sie faul und nackt sind, gehen wir ordentlich zur Arbeit. Diese Konstruktion von Identität muss aber nicht zwangsläufig entlang negativ bewerteter Zuschreibungen laufen, wie unter anderem das Bild vom „Edlen Wilden“ zeigt.
Mit der Entstehung des modernen Tourismus nahmen positiv bewertete Charakterisierungen der „Fremde“ zu. Als Urlaubssehnsüchte bilden die zugeschriebenen Eigenschaften dennoch den Gegensatz zum eigenen Leben, zur eigenen identitären Selbstdisziplinierung. Hier findet sich wieder die dualistische Sichtweise des Kolonialismus, im Zeitalter von Tourismus und Migration jedoch räumlich aufgefächert. Was dort Genuss verspricht, gefährdet hier das Zusammenleben. Deutlich wird dies am Beispiel des Bildes von Italien, eines der ersten Länder, in das zahlreiche Deutsche nach Ende des Zweiten Weltkrieges reisten.

Dolce Vita und Faulenzer

Die in den 1950er Jahren sich ausbreitende „Italiensehnsucht“ gründete sich zum einen auf die literarische Beschreibung des Landes durch zahlreiche deutsche Schriftsteller. Zum anderen hatten aber auch viele Deutsche bereits mit der NS-Organisation „Kraft durch Freude“ oder als Soldaten erste Italienerfahrungen gesammelt. Schlagertexte, Spielfilme und Zeitungsreportagen prägten die deutsche Sicht auf Italien und die ItalienerInnen in den 1950er und 1960er Jahren. Italien wurde mit Sonne, Wein, Musik assoziiert – der Lebensstil des „dolce far niente“ (süßen Nichtstuns) schien nach den entbehrungsreichen Zeiten des Wiederaufbaus ideal für Urlaubsträume.
Statt der klassischen Kulturstätten prägten nun vor allem Bilder von Sonne, Strand und Meer die Vorstellungen der Deutschen von Italien. Auf den Titelseiten der Reisebroschüren fanden sich zwar immer die gängigen italienischen Phrasen, „Einheimische“ waren jedoch nicht abgebildet. Der Kontakt war meist auf wenige Begegnungen mit touristischen DienstleisterInnen begrenzt, die bekannten Medienbilder wurden reproduziert und mit einer persönlichen Note versehen.
Parallel zu dieser sommerlichen Wanderungsbewegung setzte auch eine „Gegenbewegung“ ein: die italienische Arbeitsmigration nach Deutschland. Sie knüpfte an eine lange Geschichte der Einwanderung an, die bereits 1937 zu einem ersten Anwerbeabkommen zwischen den damaligen Achsenmächten führte. Aus „Arbeiter-Gästen“ wurden ab 1943 Zwangsarbeiter. Die Unterzeichnung eines neuen Anwerbeabkommens 1955 zwischen Italien und der Bundesrepublik läutete die Ära der Gastarbeiter ein.
Während jedoch im Urlaub die vermeintlichen italienischen Eigenschaften als angenehm und entspannend empfunden wurden, ja der eigentliche Grund für die Reise waren, wurden diese Klischees „daheim“ gegen die italienischen ArbeitsmigrantInnen gewendet. Was deutsche Schlager und Reiseprospekte als „dolce vita“ und „amore“ anpriesen, wurde nun als „arbeitsscheu“ und „belästigend“ ausgegrenzt. Direkter Kontakt wurde vermieden. Arbeitgeber, Politiker und nicht wenige ArbeiterInnen trieb zudem die Sorge um, die MigrantInnen könnten kommunistisch geprägt sein und so den sozialen Frieden in der BRD gefährden. Sie wurden daher so weit wie möglich von der Bevölkerung isoliert und in eigenen Heimen untergebracht, die nicht selten ehemalige Baracken und Zwangsarbeiterlager aus dem Zweiten Weltkrieg waren. Sie konnten nur nach Anmeldung und begrenzt Besuch empfangen.
Das romantisierende Italienbild aus den Anfängen des modernen Massentourismus stellte also nur die Kulisse bereits bekannter Projektionen. Die ItalienerInnen selbst waren nur in der „Fremde“ in dieses Bild eingenommen. Dieses Muster positiv aufgeladener Länderbilder findet sich heute in jeden Reiseprospekt: Thailand wird zum Land des Lächelns, Tibet zum Symbol für Friedfertigkeit, China zum Land der Höflichkeit, Afrika wird assoziiert mit Lebensfreude, Tanz und Improvisation.

Touristischer Multikulturalismus

Trotz dieser unterschiedlichen Wahrnehmung zwischen „Fremden in der Fremde“ und „Fremden hier“ hat gerade der Wunsch nach touristischen Begegnungen auch im heimischen Alltag nicht unwesentlich die Migration geprägt. So hat beispielsweise die oben beschriebene „Italiensehnsucht“ der Deutschen eine zweite, dem Tourismus folgende Migration befördert. Die neu entstehenden, am Geschmack der ehemaligen UrlauberInnen ausgerichteten Pizzerien und Eiscafés wurden mehrheitlich von neuen MigrantInnen aus Norditalien eröffnet und weniger von den bereits dort lebenden Gastarbeitern aus Süditalien. Diese angebotene Verlängerung des Urlaubs war für viele MigrantInnen die zunächst oft einzige Gelegenheit, ökonomisch in der Bundesrepublik Fuß zu fassen. Diese als Bereicherung empfundene Erfahrung führte auch zu einer veränderten Wahrnehmung der Einwanderung. Differenz wird nun auch in der Migrationsgesellschaft selbst als durchaus positiv bewertet.
„Kulturelle Differenz“ wird dabei zu einer neuen willkommenen Ressource, die Alltag und Miteinander interessanter und genussvoller gestalten soll. Aber auch hier wird unterschieden zwischen einer konsumierbaren und einer bedrohlichen Differenz. In den permanenten Debatten um Nutzen der Einwanderung, „Grenzen“ der Toleranz und der Bedrohung durch „Parallelgesellschaften“ wird so vor dem Hintergrund kulturalistischer Zuschreibungen kontinuierlich ausgehandelt, wo die Grenze zwischen Genuss und Bedrohung verläuft.
Der Multikulturalismus hatte für viele MigrantInnen durchaus ambivalente Effekte. Zum einen diente er als argumentatives Gegenmodell zu konservativen Vorstellungen von homogenen Volksgemeinschaften. Als Gegenbegriff zur „Leitkultur“ konnten zudem Assimilationsforderungen zurückgewiesen werden. Die damit einhergehende rechtliche Verbesserung ermöglichte vielen MigrantInnen, politisch, sozial und kulturell am bundesrepublikanischen gesellschaftlichen Leben zu partizipieren. Die BefürworterInnen multikultureller Konzepte erhofften, dass so der Rassismus durch eine „bunte Vielfalt der Kulturen“ abgelöst werden könnte. Jedoch standen die Bedingungen der Trennung zwischen der „eigenen“ und der „fremden“ Kultur weiterhin nicht zur Disposition.

Alltägliche Fremde

Mittlerweile hat sich die Zahl der bereisten Länder ebenso vervielfacht wie die über sie kursierenden Bilder. Ehemals auf den Urlaub begrenzte Erfahrungen werden mit exotischen Themen- und Erlebnisparks, Länderwochen in Kaufhäusern, Mallorca-Discopartys, Restaurants aus allen bekannten Reisezielen, Multimedia-Diashows etc. jederzeit verfügbar. Insbesondere in der Werbung greift man immer stärker auf touristische Settings und Assoziationen zurück.
Das sich spiegeln im „Anderen“, das „Das bin ich nicht“ bleibt erhalten, ohne jedoch weitergehende Aussagen über das Eigene zu treffen. Im Gegenteil, diese universalistische Position, von der aus alle anderen betrachtet werden, dient als Mittel zur Distinktion, zur eigenen Positionierung. Bei den „Anderen“ bleibt die Einschränkung ihrer gesellschaftlichen Möglichkeiten weiter bestehen. Hier wird das in Werbung und multikultureller Selbstdarstellung geleugnete Machtverhältnis deutlich: Denn als „fremd“ und „andersartig“ müssen sich nur diejenigen darstellen lassen, die ihrerseits nicht in der Lage sind, Kriterien der Unterscheidung von Fremdem und Vertrautem in ihrem eigenen Interesse zu ändern. Der Widerstand gegen diese Zuschreibungen ist dennoch vielfältig. Er reicht vom individuellen Ablehnen der zugewiesenen Rolle bis zu neuen Formen der Selbstrepräsentation. Dabei prägen diese Widerstandspraktiken auch den permanenten Prozess der jeweiligen Transformationen des Rassismus. So ist die ambivalente Etablierung eines multikulturellen Diskurses eben auch eine Folge der Kämpfe der (ehemals) Kolonisierten und rassistisch Ausgegrenzten. Die antikoloniale Artikulation eines „Rechts auf Differenz“ zielte noch gegen die Hegemonie der westlichen Staaten und den Assimilationszwang in den Migrationsgesellschaften. Im multikulturellen Diskurs wurde diese politische Differenz jedoch in eine kulturelle übersetzt. Diese Verschiebung der Auseinandersetzung auf den Bereich der Kultur begünstigte eine Entpolitisierung der Debatte. Durch diese Ausblendung der sozialen und ökonomischen Verhältnisse waren auch die zahlreichen Bemühungen der MigrantInnen um Repräsentation nur partiell erfolgreich. Es gelang zwar, öffentlich sichtbarer zu werden, etwa wenn mittlerweile auch MigrantInnen in Vorabendserien auftreten oder migrantischer HipHop allabendlich auf Viva läuft. Eine Repräsentation im politischen Sinne einer antirassistischen Interessenvertretung gelang dagegen allenfalls punktuell.
Es zeigt sich immer wieder die hohe Integrationskraft von Tourismus und Multikulturalismus. Abweichende Bilder werden entweder ausgeblendet oder dienen der Kreation neuer kultureller Erfahrungsmöglichkeiten. Auf der steten Suche nach konsumierbaren, neuen Erlebnissen werden so selbst die kulturellen (Protest-) Formen der ausgegrenzten Gruppen hiesiger wie „fremder“ Gesellschaften in den Lebensstil integriert. Das enge Korsett der kolonialen Zuschreibungen wird zwar dadurch etwas gelockert, gleichzeitig kann so Subversives funktional integriert werden.
Der Inhalt der Differenzmarkierung hat sich durchaus verändert, ohne jedoch das hegemoniale Machtgefälle anzugreifen. Kulturelle Prägungen wie Reisen, „multikulturelle Vielfalt“ und Werbung können da – gerade aufgrund ihrer vermeintlichen positiven Konnotation – als ein wesentliches Moment der Differenzmarkierung und Fremdheits- wie Identitätszuschreibung angesehen werden. (Post-/ koloniales) Reisen bildet tatsächlich – das nötige Wissen und die Kompetenz, die Welt zu „verstehen“ und Zugang zu gesellschaftlicher Macht zu erlangen.

Erschienen in
Grenzgänger - Migration & Tourismus (2008)