Lesekreis: „Das Unbehagen in der Kultur“

„Auch habe ich wirklich einen großen Teil meiner Lebensarbeit (ich bin zehn Jahre älter als Sie) dazu verwendet, eigene und Menschheitsillusionen zu zerstören. Aber wenn diese eine sich nicht irgendwie annähernd realisieren lässt, wenn wir nicht im Laufe unserer Entwicklung lernen, unsere Destruktionstriebe von unseresgleichen abzulenken, […] wenn wir die großen Fortschritte in der Beherrschung der Naturkräfte immer wieder für unsere gegenseitige Vernichtung ausnützen, welche Zukunft steht uns da bevor?“ Freud in einem Brief an Romain Rolland, 1924.

Das durch und durch kulturpessimistische Spätwerk Sigmund Freuds, „Das Unbehagen in der Kultur“ von 1930, gehört zur ersten Generation der Versuche, die aus psychopathologischen Behandlungsmethoden heraus entwickelte psychoanalytische Theorie auf das (gesamt-)gesellschaftliche Geschehen zu beziehen. Zwar hatte sich Freud bereits zuvor mit kulturellen Konsequenzen und Prämissen seiner Triebtheorie auseinandergesetzt, z.B. in Die „kulturelle“ Sexualmoral und die moderne Nervosität (1908), Zeitgemäßes über Krieg und Tod (1915), Massenpsychologie und Ich-Analyse (1921) und Die Zukunft einer Illusion (1927), das „Unbehagen“ bildet aber zweifellos den Höhepunkt Freuds gesellschaftstheoretischer Reflexion.

Wir wollen „Das Unbehagen in der Kultur“ gemeinsam lesen und auf die Frage hin diskutieren, welche Impulse die fragmentarische Freudsche Gesellschafts- bzw. Kulturtheorie für herrschaftskritische Theorie und Praxis geben kann. Dabei kann es keineswegs um eine unkritische Affirmation der aus Freuds essentialistisch-naturalistischen Anthropologie erwachsenden Theorie gehen, der Stoff muss vielmehr vor dem Hintergrund des Bewusstseins für die Historizität des subjektiven Trieblebens und der Bedeutung objektiver Verhältnisse für selbiges einer kritischen Revision unterzogen werden, um einer emanzipatorischen gesellschaftsverändernden Praxis dienlich zu werden.

Psychoanalytische Vorkenntnisse sind hilfreich.